03 - Auf den Punkt
Was am Ende übrig bleibt
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“Was definiert ein Gedicht?”
Diese Frage stellte einst die Deutschlehrerin meiner Klasse.
Reime? Nein, es gibt Gedichte, die sich nicht reimen. Versform? Nicht zwingend. Zeilenumbrüche? Rhythmus? Die Länge vielleicht? Nope. Für jedes Stilmittel hatte sie ein Beispiel, das ohne sie auskommt. Gedichte in epischer Länge. Formlose Gedankenflüsse. Quer auf das Papier verstreute Worte.
Die ganze Stunde rätselten wir. Erfolglos. Bis sie uns am Ende offenbarte:
“Ein Gedicht definiert, dass der Autor es als solches deklariert.”
Meine Lektion aus dieser Stunde? Die mich über Jahrzehnte des Schreibens begleitet hat?
Form ist ein Kann. Kein Muss.
Und mehr noch: Form macht nur Sinn, wenn sie aus sich heraus einen Sinn hat. Ein Reim verknüpft Worte. Rhythmus ist Timing, lässt fließen, stocken, treibt an oder plätschert vor sich hin. Brüche bremsen, rütteln auf, sind Atemzüge zwischen den Worten.
Form ist Inhalt.
Sie kann den Raum zwischen den Zeilen erweitern und vertiefen. Eine Reihe von Worten mit Leben erfüllen.
Form kann auch ein Korsett sein.
Einzwängen. Die Luft nehmen. Reim dich oder stirb.
Was fließen soll, fängt an zu holpern, Worte, die verbinden, stolpern. Was glänzen will, wirkt leicht banal, das ganze ist in sich fatal daneben. Es darf nicht leben.
Klingt komisch, was? Ja. Eben. Das.
Mein Rat an jeden, der sein Innen veräußern mag? Mach Dich am Anfang frei von jeder Form. Drücke das aus, was Dir auf der Seele brennt. Hau einfach raus. Ungeschliffen, roh, schlicht das, was ist.
Eine schöne Übung? Der Kaltstart. Du. Eine leere Seite. Ein Zeitfenster, vielleicht 10 Minuten. Und los!
Keine Aufgabe. Kein “Das soll es sein” oder “dafür ist es gut”. Kein Richtig oder Falsch. Einfach nur das, was Dir gerade durch den Kopf geht. Auf die leere Seite erbrechen.
Und dann, wenn Du Deinen Ausdruck gefunden hast? Fang an zu spielen. Versuche Dich an einer Form. Mach einen Schritt zurück und schau, was genau die Form bewirkt.
Ein erster Schritt? Vielleicht die Reduktion. Sag das gleiche nochmal, aber mit weniger Worten. Was ist essentiell? Was kann weg? Was braucht es wirklich?
Was bleibt am Ende übrig?
Vielleicht nur ein Satz? Ein Wort? Ein Zeichen?
Ein Punkt?
Der Punkt. Dein Punkt.
Der von all dem erzählt, was einst vor ihm stand. Und dem, was vielleicht irgendwann folgt.