Zwischen Raum

Prolog: Lass uns am Ende beginnen. Mit einer kleinen Geschichte. Ausdruck dessen, was meinen Stil ausmacht. In der sich ein paar meiner liebsten Instrumente fröhlich tummeln. Zwischen den Zeilen den Raum entfalten. Dich einladen, ihn zu füllen.

Zwischenraum

Es gibt einen Ort
Zwischen den Zeilen.

Sie schaut ihn an. Dann seinen schwarzen Hut, achtlos auf den Tisch geworfen. Auf das fast leere Papier daneben. Auf seine akribisch gesetzten Buchstaben, am Rande des weiten Weiß, so eng beieinander, dass da kaum ein Haar zwischen sie passt.
"Ziemlich kleiner Ort", bemerkt sie mit diesem süffisanten Lächeln.
"Es braucht nicht viel", sagt er, und setzt den silbernen Kugelschreiber an. Ihr Geschenk zu seinem Geburtstag. Ein Andenken an ihre gemeinsamen “Lektionen im Schreiben”. Er trägt ihn immer bei sich, in der Brusttasche seiner Lederweste.
Der Stift wandert in kleinen Schritten über das Papier.

Ich liebe Dich

Da blitzt etwas auf in ihren Augen. Und wird verschluckt von einem Stirnrunzeln.
"Das ist nicht..."
Ja, was? Fair? Wahr? Nicht mehr das, was ist? Ihre Arme verschränken sich.
Der Stift setzt ab, wandert zu einer neuen Zeile.

Nicht

"Oh."
Der Knoten löst sich. Die Arme fallen zur Seite, lassen sich los.

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Die gemeinsamen Abende. Endlose Gespräche. In seinen Armen zerfließen. Eins sein in der Zweisamkeit. Bis irgendwann der Fluss versiegte. Die Zeit zerrann. Er zu viel war. Sie nicht genug. Der Raum zu eng, um ihn zu halten. Zu weit für sie, um ihn zu füllen.
Der Stift setzt ein letztes Mal an.

Als Du mich.

Und legt sich dann neben das Papier.

"Siehst Du?" fragt er.
Sie starrt auf die vier Zeilen. Die Geschichte ihrer Beziehung, vom Anfang bis zum Schlusspunkt. Sie schluckt. Einmal. Zweimal. Nimmt den Stift auf.
In weiter, ausladender Schrift, im Zentrum, dort, wo Platz ist, wo sie sich entfalten kann:

Was am Ende übrig bleibt

Sie zögert. Nur kurz. Neue Zeile, mittig unter der Überschrift:

.

Und reicht ihm den Stift.

Er nimmt ihn nicht sofort. Starrt auf den Bogen. Leckt sich die Lippen.
"Schwefel", flüstert er. “Du bist gut.”
Seine Hand greift den Stift, lässt ihn zwischen seinen Fingern zirkulieren. Von einem zum nächsten zum nächsten und wieder zurück. Immer im Kreis. Der Blick verliert sich in seiner Weite. Wie oft sie versucht hat, ihn dort zu finden…
Der Stift stoppt. Im Klammergriff seiner Finger senkt er sich gezielt auf das Papier. Punktiert es, in ihrem Raum. Leicht versetzt rechts neben ihrem Punkt.

.   .

"Das ist nicht...", setzt sie erneut an. Dein Recht? So einfach? Der verdammte Punkt?
Seine Hand schnellt nach oben, schneidet ihr das Wort ab. Warte. Dann, mit unendlicher Ruhe, nimmt er das Papier auf. Faltet es akribisch genau in der Mitte. Zwischen den zwei Punkten. Langsam schließt er die beiden Hälften. Die Punkte kommen einander näher, näher, fast da… und werden verschluckt von der Leere der anderen Seite.
Er schiebt das gefaltete Papier zu ihr rüber. Lässt es auf halber Strecke liegen. Beschwert es mit dem Stift. Seine Mundwinkel zucken leicht. Er holt tief Luft. Steht auf. Nimmt seinen Hut. Atmet aus. Nickt ihr zu.

Und geht.

Epilog: Was ist Dir geblieben?

Das Herz einer jeden Geschichte - Die Charaktere.

Sind die beiden in Deinem Kopf zum Leben erwacht? Hast Du sie vor Dir? Kannst Du sie hören? Spüren? Sehen, woher sie kommen? Wie und wohin sie sich bewegen?

Kannst Du sie verstehen?

Viel hab ich Dir nicht gegeben. Eine Geste hier, einen Dialogfetzen dort, da ein kleiner Gedanke. Was ist das für ein Zaubertrick?

Recht simpel: Ich vertraue Dir. Du bist mein Co-Autor. Ich werfe Dir achtlos einen Hut auf den Tisch. Du formst den Kopf, auf dem er sonst ruht. Ein kleines Detail ist der Samen, der aus Deiner Erfahrungswelt sprossen treibt.

Du kannst einen prunkvollen Thronraum über drei Seiten detailliert beschreiben.
Oder in einer Zeile den absurd luxuriösen Kronleuchter in seinem Zentrum.

Entscheidend dabei? Die Balance zwischen Harmonien und Dissonanzen. Was verbindet die beiden? Wo stoßen sie sich ab? Eine Dynamik, die sich mit jedem Puzzleteil weiter entfaltet, aufschäumt und abebbt. Kontraste beleben die Geschichte und machen die Charaktere lebendig.

Zeige den hölzernen Becher, von Hand geschnitzt, neben all dem goldenen Prunk.
Und der Raum selbst wird zum Charakter.

Was ich Dir zeige, ist bewusst gewählt.

Meine Hand führt die Kamera, lenkt den Blick. Ein kleiner Ankerpunkt führt die Bewegung.

In dieser Geschichte? Der silberne Stift. Er verlinkt nicht nur das Hin- und Her der beiden Protagonisten. Sondern auch das, was vorher war, die Lektionen im Schreiben, das Geburtstagsgeschenk, seine konstante Präsenz in der Brusttasche des namenlosen Mannes. Bis hin zu dem, was folgt. Das Geschenk bleibt zurück. Als Beschwerer des gefalteten Papiers. Trennt sich von dem, wofür er gedacht war. Kehrt zurück zu ihr, die ihm einst seine Bestimmung gab.

Was ich Dir nicht zeige, ist mindestens genauso bedeutend.

Wo befinden sich die beiden? In einem gemeinsamen zu Hause? Bei ihr oder bei ihm? Vielleicht gar auf neutralem Grund, ein Café etwa? Wie sind ihre Namen? Ihr Alter? Sind die beiden noch in einer Beziehung, oder ist dies der Epilog einer Trennung?

Ich könnte dieses Detail einbinden. Darüber mehr erzählen über das Davor und Danach. Oder ich lasse es bleiben. Überlasse es Dir. Denn es ist nicht entscheidend für das, was ich erzählen möchte. Wie immer Du auch diese Lücken füllst, es wird sich nahtlos fügen an die Pfeiler, die ich nachdrücklich eingeschlagen habe. Seine kleinen, engen, präzisen Zeilen, die alles zu dominieren scheinen. Ihre weite, ausladende Schrift, die nie genug Platz hat, um ihn wirklich zu füllen.

Was ich Dir gebe, sind Skizzen ihrer Essenz, mit wenigen Strichen. Linien, die nicht statisch sind, sondern ineinander fließen in einem kleinen Tanz aus Verbundenheit und Gegensatz. Du gibst dem Bild Farbe und Tiefe.

Und dann noch der letzte Clou.

Ich sage dir nicht, wie die Geschichte der beiden endet.
Du bist es, der ihr Schicksal besiegelt.

Wenn ich gut war, wird es dir selbstverständlich erscheinen.
Du wirst die Geschichte in Dir mit der Gewissheit eines selbstbewussten Autors weiterführen.

Wenn ich richtig gut war,
dann wird dieses Ende nicht das meine sein.
Und auch nicht das der anderen Leser.

Doch es wird befriedigend sein – für dich.

Die Geschichte wird zu Deiner.
Die Charaktere leben in dir weiter.

Und Du, werter ZuLeser? Wie hast Du die Lücken gefüllt? Was haben meine Zeilen Dir erzählt? Oder, vielmehr: Was hast Du Dir erzählt entlang meiner Brotkrumen?

Und welche Pfade sind da noch? Was mag meine Geschichte sein? Seine, ihre, die von dem Typen an der Bushaltestelle oder der Kassiererin im Supermarkt?

In der nächsten Lektion: Brüche.

Dieses kleine Gedicht, das den Kern der Geschichte bildet.

Ich liebe Dich
Nicht
Mehr
Als Du mich

Wir lesen uns gleich wieder…

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Brüche